Philosophie und Christentum
Die anfängliche beiderseitig traumatische Begegnung der philosophischen Vernunft und des christlichen Glaubens auf dem athenischen Areopag – „darüber wollen wir dich ein andermal hören“ (Apg 17,32) – war nur eine keimhafte Äußerung der ausdrücklichen schöpferischen Spannung, die im Laufe der vergangenen zweitausend Jahre eine breite Skala der gegenseitigen Beziehungen hervorgebracht hat. Eine vollständige gegenseitige Öffnung und Annahme zeigte sich als das am schwierigsten Erreichbare. Philosophie als eine „Bedrohung des Glaubens“ und Christentum als ein „Vorurteil der Finsterlinge“ bleiben die Grundformulierungen der gegenseitigen Verschlossenheit und Ablehnung. Dagegen war und ist das Bemühen um gegenseitige Assimilierung immer als ein gewisser Versuch um beiderseitige Anerkennung, bzw. positive Ausnützung, aber gleichzeitig lässt es nicht eine autonome und unreduzierte Entfaltung seines Gegenübers zu: Eine „christliche Philosophie“ und ein komplementäres „philosophisches Christentum“ kann man nicht als voll eigenberechtigt und kompakt betrachten. Offensichtlich kann nur ein echter Dialog von zwei unabhängigen, selbständigen Identitäten zur vollen gegenseitigen Bestätigung und tiefen gegenseitigen Bereicherung führen.
Die Voraussetzung dieser Beziehungserfüllung ist eine beiderseitige Anerkennung, dass die Philosophie und auch das Christentum eines voneinander unabhängigen eigenen Kontakts mit der Wirklichkeit fähig sind. Dieser Kontakt kann gewiss auf beiden Seiten auch relativ mangelhaft sein: begrenzt auf die Wirklichkeit der Welt, des Menschen, des Seins; die Philosophie und die christliche Theologie können atheistisch sein, wenn sie sich nur Gottesbildern in Zusammenhängen der geschaffenen Wirklichkeit widmen. Die Philosophie und das Christentum sind allerdings auch des Dialogs mit Gott fähig. Und es scheint, dass gerade erst die Tiefe und Intensität dieses Dialogs auch die Möglichkeit des Dialogs zwischen ihnen selbst mit sich bringt.
Im gegenseitigen Gespräch macht das Christentum die Philosophie auf gewisse einmalige Wirklichkeiten aufmerksam, wie die biblische Offenbarung, das christliche Glaubensbekenntnis, die sakramentale Struktur der Kirche u. ä., in denen der christliche Dialog mit Gott unverlierbar verankert ist, und die Philosophie nimmt diese Wirklichkeiten an und erwägt sie im Lichte ihres eigenen Dialogs mit Gott. Zugleich macht sie selbst das Christentum auf gewisse ihr selber unentbehrlich eigene Haltungen aufmerksam, wie das radikale Fragen, die unbedingte Beziehung zur Wahrheit, die kritische Selbstreflexion u. ä., die eventuell für sie den Dialog mit Gott eröffnen und sich selbst darin schöpferisch vertiefen; das Christentum nimmt probeweise diese Einstellungen an und untersucht deren Nützlichkeit im ganzheitlichen Kontext seiner eigenen Beziehung zu Gott. Die Philosophie und das Christentum können also mit ihrem Dialog rückwirkend ihren je eigenen Dialog mit Gott gegenseitig fördern: den Rückfall in anthropozentrische Rahmen einer bloßen Ideologie, Rhetorik, Politik, Ästhetik u. ä. verhindern und sich gegenseitig gegen Verschließung in monologische, immanentisierende Konsumhaltungen schützen.
Das Christentum und die Philosophie können auch lernen, der Sprache des anderen von Angesicht zu Angesicht Gottes zuzuhören und gegenseitig ihre tiefsten Beschenkungen wahrzunehmen, die sich gerade in diesem Sprechen aktualisieren und wachsen, und derart auch bedeutende Inhalte zu vernehmen, die dem Menschen auf die eine oder andere Art zukommen. Die Philosophie kann mit dem Christentum darüber sprechen, wer Gott sei. Sie kann vor allem der christlichen Theologie helfen, mehr oder erneut von Gott zu reden.267
267 Die Realisierung dieser Potentialität wurde noch unlängst – vielleicht infolge des Anwachsens der monologischen Ermüdung – einigermaßen gedämpft: Annähernd von den sechziger Jahren an wurde der christliche Glaube am häufigsten nur als ein Versuch theologisch reflektiert, der keinen Maßstab außerhalb von sich oder über sich hat. In diesem Zusammenhang kann man mit Recht vermuten, dass auch das gegenwärtige christliche Dilemma des „Fundamentalismus“ und „Säkularismus“ in gewissem Maß gerade durch die Begrenzung des theologischen Dialogs mit Gott bedingt ist.
Und letztlich kann die Philosophie gemeinsam mit dem Christentum auch diese mehr allgemeine Frage des dialogischen Denkens stellen: Ist es tatsächlich wahr, was der Spruch einer Postkulturrede überzeugend behauptet – dass „alles schon gesagt worden ist“ – oder haben wir in einem ziemlich bedeutenden Sinn noch nicht angefangen zu reden? Die freie pluralische Dynamik des menschlichen Seins (deren Potentialitäten die Menschheit seit dem Beginn ihrer Existenz selbst verwirklicht) ist in der Beziehung zu Gott (von der wir nicht nur als Christen oder Philosophen beschenkt werden können) der am meisten empfindsame mögliche Boden, auf dem sich gegen jedwede abtötende Wahrscheinlichkeit auch heute noch die geschichtliche Zukunft eröffnet und die menschliche Rede erneuert.